Einleitung


Der wahrnehmende Mensch hat, wie wir gesehen haben in Lektion 8 - Mischungsverhältnisse - in der Hierarchie der Wahrnehmungstendenzen ein bestimmtes Mischungsverhältnis, welches für seine Wahrnehmung charakteristisch ist. Dieses haben wir die Wahrnehmungsweise genannt.

Die Wahrnehmungsweise ist Grundlage für die Übersetzung in Formulierung, die Darstellungstendenzen werden also den Wahrnehmungstendenzen entsprechen. Wir können  dann auch analog von einer Darstellungsweise sprechen wenn wir das spezifische Mischungsverhältnis der Darstellungstendenzen meinen, die auf einem Bild dominant in Erscheinung treten. 

Für eine Bildanalyse und ebenso für die Entwicklung eigener Bildkonzeptionen schlage ich vor zwei bis drei der wichtigsten Darstellungstendenzen zu untersuchen, da es sonst unüberschaubar wird in der Komplexität und es auch nicht mehr von der eigenen Projektion zu unterscheiden ist. 

Wenn wir Paare bilden, also zwei Tendenzen zusammen untersuchen, haben wir die Haupttendenz und die modifizierende Tendenz. Gehen wir von einer Dreiergruppe aus nennen wir die dritte noch die modifizierenden Nebentendenz. Manchmal kommt es auch vor, dass mindestens zwei Tendenzen gleichwertig sind, vielleicht sogar drei (oder noch mehr). Dann kommt es sehr auf den Blickwinkel des Rezipienten an, ob er die eine oder die andere mehr in das Zentrum der Betrachtung stellt. Da sowieso immer alle Tendenzen anwesend sind ist dies allerdings auch kein Problem, zeigt es doch nur einmal mehr, dass der Blick des Rezipienten in der Tat das entscheidende Kriterium für den Erfolg einer Aussageintention ist. 

Dennoch können wir in einer eingehenden Bestandsanalyse der konkret vorfindlichen Bildelemente eine gewisse Verbindlichkeit der Aussage erfahren und darüber hinaus ist ganz grundsätzlich zu empfehlen, dass man den Eigenen Blick auf Bilder immer mit dem Blick anderer konfrontiert - kurz über die Bilder spricht. Kommunikation darf nie erstarren. Wird eine Aussage erst einmal in ihrer Bedeutung zementiert, dann lebt diese Aussage nicht mehr. Man muss Aussagen immer wieder neu auf sich einwirken lassen können, deswegen kann man sich auch ein Bild jahrelang immer wieder neu anschauen, man kann Bücher zehnmal immer wieder zum ersten Mal lesen und im Gespräch mit andren wird der eigene Blick auf ein Bild immer wieder modifiziert. Diese erkenntnissteigernde Offenheit zu begrenzen durch eine endgültige Auslegung oder Deutung, stellt nur den Schriftgelehrtenselbst  ins Zentrum des Kommunikationsaktes, dies gilt mit Sicherheit auch für die Auslegungsgeschichte der Bibel. 

Wir können hier nicht die Vielfalt der Mischungsverhältnisse eingehend beschreiben. Wir wollen hier ein paar uns wesentlich erscheinende Aspekte herausarbeiten.


Zum Kunstgeschichtlichen Stil


In der Zeichenkritischen Theorie spielt der Stilbegriff (siehe auch Lektion 3) nur eine untergeordnete Rolle. Die Aussageintention steht dafür an zentraler Stelle. Dieser Begriff bezeichnet das ablesbare Mischungsverhältnis aus Aussageebenen und Darstellungstendenzen. In Lektion 9 werden die Aussagemodi untersucht, die Aufschluss darüber geben können, was die Motive, die Themen einer bestimmten Kulturepoche sind. Die Darstellungstendenzen geben dann darüber Aufschluss, wie diese Themen umgesetzt werden in die bildnerische Sprachform. Man kann bei den sogenannten Kunstrichtungen oder Stilepochen ebenfalls mit Aussageintentionen arbeiten, die allerdings in einem größeren kulturellen Rahmen stehen, da sie die Paradigmen der Zeit repräsentieren. Bei der Betrachtung "kultureller Netze" haben wir gesehen, wie verschiedene Auffassungen von dem Wesen einer Zeit nebeneinanderher bestehen, oder sich auch vehement bekriegen können (30-jähriger Krieg). Deswegen ist es selbstverständlich, dass auch in den Aussageintentionen verschiedener Künstler sich unterschiedliche Zeitkonzepte repräsentieren können. Das, was "normalerweise" von einer Zeitepoche übrig bleibt ist das, was die herrschende Machtstruktur affirmiert oder auch die kommenden Generationen dann als das Entscheidende für die eigene Legitimation herangezogen haben. Kunstwerke, die in dieses Spiel der Mächte nicht hineinpassen, werden vergessen, manchmal auch zerstört (Bildersturm im 16. Jhdt., "entartete Kunst" der Nazis). Sie sind dann für die weitere Entwicklung der kunstgeschichtlichen Sprachformen, also der Sprachsymbolik, irrelevant. 

Weite Teile der neuzeitlichen Kunst sind von der ikonischen Darstellungstendenz bestimmt, Landschaften, Portraits sind dafür Beispiele. als modifizierende Tendenzen gibt es z.B. bei Peter Paul Rubens auf der Ebene der O''''-Aussage die indexalische Darstellungstendenz (Historienbild), wobei gerade bei Rubens das Ikonische die Haupttendenz zu sein scheint, schwelgt er doch in der sinnlichen Erfassung des Inkarnats, bei Turner sehen wir auf der O'''-Aussageebene (mindestens aus heutiger Sicht) die ästhetische Darstellungstendenz. Bekanntlich hat er auch auf die Impressionisten einen großen Eindruck gemacht, eben wegen dieses ästhetischen Charakters seiner Arbeit, die aber auch durchaus tiefensymbolisch-religiös gelesen werden kann.


zum individuellen Stil


Über die eigene Wahrnehmungsintention entwickelt jeder Künstler einen mehr oder weniger identifizierbaren eigenen Stil. Mindestens sind bestimmte Merkmale vorhanden, die ihn von anderen Künstlern unterscheiden. Aus heutiger Sicht ist der individuelle Stil fast oberstes Gebot des Kunstmarktes, der Künstler muss eindeutig in seiner Aussageintention zu identifizieren sein, damit er sich behaupten kann. Abweichungen werden mit der Verbannung aus dem Kunstmarkt nicht unter 10 Jahren bestraft. Ein echter Bormann jubeln die einen, ein gefälschter Kupka wehklagen die anderen. Position und Ort, Innovation und Originalität, Eigenart und Handschrift sind die Zauberworte, denen man heute auf den Leim gehen muss.

Auch hier wird einklassifiziert, zugeordnet, schubladisiert auf Teufel komm raus. Das ein Künstler im Laufe seines Lebens auch Unterschiedliches zu sagen hat, wird kaum wahrgenommen, denn es interessiert ja nicht die Aussage, sondern nur der liebe Marktwert, den ein Künstler auf die Waage bringen kann. 

Dennoch wollen wir hier z.B. bei Van Gogh dessen individuelle Stilmerkmale kurz betachten, damit deutlich wird, wie sich individueller Stil darstellen kann. Durch sein ganzes Schaffen zieht sich eine Tendenz zum Tiefensymbolischen und Gestischen, als modifizierende Nebentendenzen erscheinen Individualsymbolik und Ikonizität. (In Worten: Er malt seine Bilder mit einem deutlich erkennbaren Duktus, in der  typischen, manchmal fast wilden Spur seiner Bilder. Die Bilder sind häufig dramatische Interpretationen der Wirklichkeit, durch expressive Farbe und Form bestimmt. Das individuelle Schicksal, mit dem Van Gogh immer zu kämpfen hat, ist für die Rezeption der Bilder in der Regel nicht so wesentlich (Aber: Selbstbildnis mit abgeschnittenem Ohr), dennoch gibt die Kenntnis seiner Biografie einen wichtigen Blick auf seine Bilder frei. Dem Ikonischen hat sich Van Gogh subjektiv ganz und gar verschrieben, er malt überhaupt nichts ohne Anschauung, dennoch ist das Abbildhafte immer nur interessant als Ausdruck einer leidenschaftlichen Beziehung zur Realität.) - Das Ganze auf der Basis eines Aussagemodus O'>O<O''. (Soll heißen: er versucht für die anschauliche Realität aus der individuellen Sichtweise seiner Position heraus ein adäquates bildnerischen Vokabular zu entwickeln, das in der Lage ist, die Welt so wie er sie sieht, auszudrücken.


Der Impressionismus


Als Beispiel für die Widersprüchlichkeit innerhalb eines sogenannten Kunststils soll der Impressionismus herhalten. Monet, Renoir, Degas, und ein paar weitere. Es waren diese paar Maler, die in Paris der 70er Jahre des 19. Jhdts. einen wichtigen Schritt vollzogen in Richtung auf die Neuorientierung von Kunst im 20. Jhdt. Darin waren sie sich einig, damit kann man schon eine Gruppe bilden. Wenn man genauer hinschaut gibt es in den Aussageintentionen dennoch starke Unterschiede zwischen ihnen. 

Alle wollten den Reiz des Augenblicks, die Atmosphäre des einmaligen Moments einfangen, waren naturalistisch bis zum Exzess, was die Genauigkeit der realen Eindrücke ausmachte. Monet mit seinen Heuhaufen, die er in allen möglichen Tageszeiten darstellte, Degas mit seinem Spleen, tanzende Mädchen im Lichtgeflimmer der Bühne zu erfassen und Renoir der große Menschendarsteller, der in schappschusshafter Genauigkeit Menschen in ein atmosphärisches Fluidum eintauchen lasst.  

Das Ästhetische ist für alle verpflichtend: der Reiz des Augenblicks, das Geflimmer einer präzisen Situation ist oberstes Thema. 

Monet intensiviert aufs äußerste das Ästhetische, Ikonizität verschwimmt immer mehr im Rausch der farbigen Eindrücke (ästhetisch-abstrakt, er zeigt das Atmosphärische der Luft, der Farben als etwas Elementares, als einen Reiz, der ihn in seinen späten Bildern fast an den Rand des Metaphysischen bringt).

Renoir konzentriert sich immer mehr auf den Akt, als Ausdruck einer extrem gesteigerten Sinnlichkeit, die vom Vibrieren des Inkarnats lebt (ästhetisch-ikonisch, denn es geht ihm in weitaus stärkerem Maße als den anderen Impressionisten um die genaue Erfassung bestimmter Merkmale).

Degas, auch er stark hingezogen zum Abbild des Weiblichen arbeitet stets im Atelier, ganz untypisch für einen Impressionisten, die sich der Plein-air Malerei verschreiben haben. Er ist der modernste der Impressionisten aus heutiger Sicht, hat er doch Komposition und Motivwahl aus ganz anderen Sehweisen abgeleitet als des nur Ästhetischen, er widmet sich weit mehr als die anderen Impressionisten auch Themen der Arbeitswelt, der gesellschaftlichen Vergnügungen (ästhetisch-indexalisch, da seine Themen auf den zeitgeschichtlichen Hintergrund verweisen).


Die Abstraktion und das Ungegenständliche


Beim Thema der Darstellungsweisen möchte ich noch auf eine weitere Besonderheit eingehen. Gehen wir dazu erst noch einmal auf das Thema "Baum" ein.

Ich sehe vor mir einen Baum.

Die Distanz ist wichtig für die Information, wie der Baum aussieht. Denn nur so kann ich auch den Baum in seiner Gesamtform erkennen. Ich kann auch den Kontext wahrnehmen, in dem der Baum sich befindet. Je näher ich dann dem Baum komme, um so intensiver wird die vollständige sinnliche Erfahrung: die Rauheit der Rinde, sein Geruch, die Geräusche, die der Wind im Baum bewirkt. Aber auch das Wissen ist wichtig, um den Baum in seiner Gesamtheit zu erfassen: Der Baum als Biotop, die Osmose, die Energieversorgung durch das Blattgrün in Verbindung mit der Sonne, die Sauerstoffproduktion in der Nacht. Dazu kommt auch die Erfahrung in der Zeit: Die Eichel, das junge Pflänzchen, der Baum, die alte Eiche, das morsche Holz, oder auch das Sägewerk, der Tisch. Und die Märchen darf man nicht vergessen, Hänsel und Gretel, und den Film über den Wald am Amazonas. Das, was die Vorstellung 'Baum' in meinem Kopf ausmacht ist ein ganzes Puzzle aus verschiedensten Elementen, die unterschiedlichsten Erfahrungen führen zu dem was als Synthese dann in meiner Vorstellung 'Baum' ausmacht. 

Der Begriff 'Baum' ist eine neue Einheit, eine Synthese und eine ABSTRAKTION all der verschiedenen Erfahrungen und Kenntnisse vom Baum. 

Soviel noch einmal zu den Wahrnehmungszusammenhängen. Wenn ich nun dieses alles in ein Bild übersetzen will habe ich mehrere Möglichkeiten: 

1. Ich will den Baum malen, "so wie er aussieht" ich werde also die ikonische Darstellungstendenz dazu besonders bemühen. 

2. Ich will den wesentlichen Kern des Baumes darstellen: Ich brauche hier die Abstraktion als Darstellungsweise des Ikonischen in Zusammenhang mit dem Abstrakten. Wenn es um die Frage des Wesentlichen geht, ist dabei immer eine existentielle Konstante im Spiel, also die Qualität des 'Baumhaften an sich'. Je höher der Abstraktionsgrad, desto dominanter wird die abstrakte Darstellungstendenz, allerdings wird sie immer mit dem ikonischen verhaftet bleiben, da sonst der Bezug zum "Baum" verloren geht. Wenn der Ikonizitätsgrad zunimmt, dann wird das Ikonische, welches ja die Grundlage bildet sozusagen noch einmal verdoppelt. In der Tautologie ikonisch-ikonisch ist die Unterscheidbarkeit zwischen Bild und Realität aufgehoben, es ist die virtuelle Realität der Cyberwelt. 

3. Die Erfahrung mit der Rauheit der Rinde z.B. kann durchaus wieder aktualisiert werden, wenn ein anderer rauer Gegenstand berührt wird. Ich kann also eine Eigenschaft 'rau' bilden, die zwar etwas ganz konkret Sinnliches meint, aber dennoch mit der Realität nichts zu tun hat, da diese nie das RAUE sondern immer nur ein ganz konkret Raues sein kann, und dies immer unterschieden von einem anderen konkret Rauen. 'Das Raue' ist etwas, welches vom Gegenstand abgezogen ist, es ist eine "gegenstandslose" Eigenschaft, die eine Erfahrung repräsentiert, die mit ganz unterschiedlichen Gegenständen gemacht werden kann. Für das Begriffsystem sind solche freischwebenden Erfahrungen natürlich ganz wichtig, man kann jetzt klassifizieren, auf Grund 'gemeinsamer Eigenschaften' Dinge einander zuordnen, es bewirkt eine hohe Ökonomisierung der Denkprozesse. Das 'Raue' als Wahrnehmung repräsentiert eine abstrakte Wahrnehmungstendenz, es geht um eine Konstante, ohne die wir uns unsere Umwelt nicht vorstellen könnten. Um das Raue zu erleben, braucht es aber immer auch die Handlung: ich muss über ein Material streichen, um es als glatt oder rau erfassen zu können. die gestische Wahrnehmungstendenz ist also die notwendige modifizierende Tendenz für die Eigenschaft 'rau'. Bei 'hell' ist das anders: hier geht es um eine ästhetische modifizierende Tendenz, bei 'mächtig' um eine tiefensymbolische, bei 'grün' um eine ikonische modifizierende Tendenz. 

Ich kann diese Eigenschaften, z.B. 'das Raue' bildsprachlich darstellen. Hier liegt das Wesen der ungegenständlichen Kunst. Das, was als abstrakte Kunst normalerweise beschrieben wird, ist aus der Sicht der Zeichenkritischen Theorie ungegenständliche Kunst. (Der Begriff 'gegenstandslos', der auch möglich einscheint, hat die falsche Konnotation, dass es sich auf gar nichts bezöge. Das ist nicht richtig, da diese Kunstform eben Eigenschaften darstellt. Deswegen verwende ich lieber den Begriff 'ungegenständlich'.) 

Alle bildnerischen Variablen haben auch die Möglichkeit Ungegenständliches auszudrücken. Der situative Kontext verweist auf das Indexalische, Dimension auf Tiefensymbolisches, auch auf ikonisches, Spur auf Gestisches, usw.


 

O''

 
modifizierende Tendenz:

DAS "UNGEGENSTÄNDLICHE" im Bild

ungegenständliche KUNSTRICHTUNGEN
ästhetisch

Kontrast und Spannung

OP-Art, Farbvibration (Flimmereffekt)
gestisch

der Gestus

Informell, Action Painting
tiefensymbolisch

das "Expressive"

Abstrakter Expressionismus, Abstraktion-Creation, Art autre
ikonisch

Die Wiedererkennbarkeit des Objekts

Minimal Art, Konkrete Kunst, Colour Painting, Ars Akkurata
individualsymbolisch

"persönliche Handschrift", Schnörkel, Phantasiegebilde

Arabeske, Ornamentik
sprachsymbolisch

Der Verweis auf die kulturelle Form

Konstruktivismus, Post painterly Abstraction, Colour painting, Ornamentik
indexalisch

Blick auf den Kontext, den Ort, die "Beweggründe"

Konstruktivismus, Suprematismus
abstrakt

Die Komposition als abstrakte Bezeichnungsebene

Minimal-Art, Konstruktivismus