Bäume und Tassen


Angenommen, ich habe ein Foto vor mir, auf dem ich einen Baum erkenne. Wir nennen das ikonische Zeichen 'Baum' , um ihn von dem Originalbaum, oder Baum zu unterschieden.

Was geschieht da alles? Welche Fragen stellen sich dabei?

Erkenne ich einen ganz genau bestimmten Baum? oder erkenne ich einen Baum, bereits als Abstraktion?

Ich sehe zwar einen ganz konkreten Baum vor mir auf dem Foto; aber ich selbst kenne den Originalbaum nicht, ich kann also nur über die Abstraktion den Baum als solchen erkennen, Der 'Baum' sieht auch nicht im geringsten so aus, wie der O-Baum, dieser ist raumgreifend, groß, materiell sinnlich erfahrbar, er duftet, er hat Geschichte und Dauer, das Bild davon ist nichts dergleichen, alles was es mit dem Baum gemein hat ist die visuelle Struktur auf der Netzhaut, Also; das Bild eines Baumes hat mit dem Baum NICHTS gemein, Es hat etwas mit mir und meiner Art zu sehen gemein. Die einzige Ähnlichkeit, die das Foto mit dem Gegenstand hat ist also über mein Auge vermittelt.

Wie lerne ich dieses Zeichen lesen?

Der Umgang mit einem Baum ist so, dass alle meine SINNE beansprucht werden, ja näher ich dem Baum bin, um so intensiver wird die vollständige sinnliche Erfahrung, Aber auch die Distanz ist wichtig für die vollständige Information, denn nur so kann ich auch den Baum in seiner Gesamtform erkennen. Dies geht nicht, wenn ich an ihm reibe und ich seinen Geruch einatme, Also brauche ich die aktuelle Erfahrung und die gespeicherte Erfahrung, Vielleicht auch noch die Erfahrung mit anderen Formen, die der Baum einnehmen kann, als Sitzmöbel z.B.

Man kann sich durchaus eine Situation vorstellen (vielleicht im Mittelalter) in der die Menschen nie ein Bild zu Gesicht bekommen haben. Das Gehirn speichert also die verschiedenen Erfahrungen zum Thema Baum und diese lassen sich auch wieder neu kombinieren, also die Erfahrung mit der Rauheit der Rinde kann durchaus wieder aktualisiert werden, wenn ein anderer rauer Gegenstand berührt wird, bzw. ich kann das Abstraktum 'rau' bilden (Alle Abstrakta, alle Klassifizierungen haben mit Wirklichkeit nichts zu tun, da diese z.B. nie das Raue sondern immer nur ein ganz konkret Raues sein kann, und dies immer unterschieden von einem anderen konkret Rauen).

Dadurch, dass mein Kopf offenbar schon durch die Sinnesorgane die Ganzheit aufsplittet, geschieht ein Zerlegen in Einzelaspekte, Diese Einzelaspekte werden auch im Gehirn verschieden gespeichert und sind dann in assoziativer Collage-Arbeit wieder zusammenfügbar, ich weiß von meinem Denken, dass ich in der Lage bin 'Baum' zu denken, ohne an den Geruch, ohne an seine konkrete Form, ohne an seine jeweilige Blattstruktur zu denken. Der Begriff 'Baum' ist dann aber wieder eine neue Einheit quasi eine abstrakte Synthese aller verschiedener Erfahrungen und Kenntnisse, da wir ohne den Begriff 'Baum' also dem Zusammenhängenden, dem entsprechenden der Einheit des Baumes, nicht denken könnten, Erst die Begriffe bringen es fertig die verschiedenen assoziativen Bereiche sinnvoll zusammenzuführen.

Dagegen stellt sich z.B. der Surrealismus, der nicht von den Begriffen, als Pendant der Wirklichkeit ausgeht, sondern von assoziativen "Zufälligkeiten" dann 'künstliche' Begriffe produziert, Offenbar kann man diese assoziativen Felder auch 'Falsch' miteinander in Beziehung setzen, und es gibt dennoch einen nachvollziehbaren Sinn, offenbar muss in dem 'falschen' etwas sein, was dennoch eine Ganzheit, wenn auch eine Kopp-immanente, bezeichnet, Sinnlich wahrgenommenen Einzelelement können natürlich rein theoretisch auch in einer Weise synthetisiert werden, dass daraus kein Pendant (Abbild) der Wirklichkeit entsteht, bzw. dass diese Art der Verknüpfung keine ist die der Sache zugehört, sondern der Situation, in der eine Sache erfahren worden ist, und wo dann Eindrücke, die mit dieser Sache nichts zu tun haben dennoch mit ihr verkoppelt wurden, Man mein also, dieses Element gehörte zur Sache, dabei gehört es nur zu einer Situation, die auch bereits längst vergangen ist. Während die Eigenschaften der Sache bleiben. Aber es gibt offenbar im Menschenleben Situationen, die weder für ein Menschenleben 'Sache' sind, also wiederholbar und immer wieder vorkommend, so dass die daraus begründeten 'Begriffe' dennoch verstanden werden auch wenn sie nichts mit einer nachprüfbaren, aktuellen Sache zu tun haben.

Jedes Stammtisch Gespräch zeigt diese Fähigkeit, man erzählt eine Geschichte, und dann kommt die alles erlösende Moral: "Na, so sind sie eben die....". Die sinnlich einzeln wahrgenommenen Elemente einer Situation werden in unzulässige, weil sachlich nicht angemessene Beziehungen zueinander gestellt, verknüpft.

Eine Situation besteht aus Konstanten, in immer neuer Anordnung, Dadurch hat jede Situation etwas einmaliges, weil sie eine ganz bestimmte Zuordnung der Konstanten darstellt, gleichzeitig kann der Blick auf die Konstanten auch ermöglichen, sich von der Situation zu lösen. Dies geht aber nur, wenn man die Erinnerung mit einbezieht. Ohne Erinnerung gäbe es nur die aktuelle Situation in ihrer Gesamtheit, und damit auch in ihrer Ungegliedertheit, gegliedert wäre sie nur durch die Aufteilung unter den verschiedenen Sinnesbereichen.

Der Blick auf die Konstanten ermöglicht auch erst die Begriffsbildungen, jede Begriffsbildung, d.h. also auch jede Abstraktion, ist auf Erinnerung aufgebaut, Die Denotation ist also der Kern des Begriffes, die Konnotation, das, was unzulässig zu dem Begriff dazugesehen wird aus der situativen Gesamtsituation heraus.

Angenommen eine bestimmte Tasse. Diese erlebe ich Zeit meines Lebens immer nur in der Hand von Oma, Niemand darf diese Tasse sonst benutzen , geschweige denn abwaschen oder so. Auf Grund von Merkmalen, der Form z.B., kann ich diese Tasse zweifellos den 'Tassen' zuordnen, Dennoch hat diese Tasse etwas besonderes, denn sie ist ja Omas Tasse, und diese Qualität haben die anderen Tassen nicht, Wenn ich diese Tasse sehe ist sofort völlig klar, dass ich diese Tasse nimmer anrühren darf. Oma und Tasse sind eins. So, und nun stirbt Oma. Die Tasse ist verwaist, sie steht im Schrank, unberührt, neben den anderen Erinnerungsstücken an Urlaube, Mitmenschen etc., und so wird durch diese Tasse Oma immer wieder lebendig und geistert durch die Assoziationsfelder meiner Tassenlandschaften. Das ist noch harmlos, denn eine Tasse kann ich ja tatsächlich erleben, Unangenehmer wird's mit einer Konstanten in nichtsächlicher Form, immer wenn mich Vater anbrüllt, kommt Oma, und ich darf auf ihren Schoß, Wenn Vater nicht brüllt, auch kein Schoß, Also es gehören zusammen; Vater brüllt, Oma Schoß, Untrennbar ist klar, Konstante, wenn man das sieben Jahre erlebt hat, hat sich das schon ganz schön eingefahren, Das ist gewissermaßen ein Begriff geworden, Oder Omas Schoß als Institution, So und nun stirbt Oma, Vater brüllt jetzt viel gemeiner, damals hatte er geradezu lieb gebrüllt, jetzt geht's mir schlecht, damals ging es mir gut, Vater brüllte lieb, Omas Schoß, alles klar, Und jetzt? ja in meiner Kindheit war alles viel besser.

Alles.

Eine Situation ist ja ein schwer abzugrenzender Begriff, ist das nun ein Augenblick oder eine Stunde oder ein Jahr oder der Urlaub oder die Kindheit? Eine Situation kann für das Gedächtnis alles sein, je nachdem welcher Aspekt wichtig ist, Konstanten können also auch Situationen definieren, Brüllvater und Schoßoma definieren so im Wörtchen "alles" eben die ganze Kindheit, Kindheit ist dann das, als Vater noch lieb brüllte, und Omas Schoß noch lebte. Sonst ist Situation nur das, was ich im Augenblick erlebe in seiner ganzen Neuheit. Eine Situation gibt es nur in der Gegenwart.

Zurück zum Baum.

Der Baum auf der Fotografie sieht aus wie ein Baum ist aber keiner also Vorsicht!

"das sieht aus wie - ist aber nicht -" ist immer eine Täuschung - ALS OB. Funktionieren kann das nur deswegen, weil ich diesen Sinneseindruck, der aussieht wie der auf das visuelle reduzierte Sinneseindruck von einem Baum unter dem Aspekt der Konstante als Bildbegriff verfügbar habe, jedoch funktioniert das anders als z.B. bei einem Wort oder auch bei einem abstrakten Zeichen eines Baumes: ich kann mich über Bäume unterhalten, ohne das Konkrete eines Baumes mir auch nur vorstellen zu müssen, Ich kann auf einem abstrakten Bild von z.B. Mondrian einen Baum erkennen, auch wenn der nichts mit einem konkreten Baum zu tun hat. Aber die Konstanten sind da.

"Ein Baum hat immer..."

Bei der Fotografie sehe ich ja nun ein ganz Eigenes, etwas das nur dieser Baum so hat, ich werde mit der Unverwechselbarkeit einer Individualität konfrontiert (wann auch auf das visuelle reduziert) und sehe trotzdem 'Baum', "normalerweise" erlebe ich das individuelle, unverwechselbare immer nur in der augenblicklichen Situation also direkt und komplex, Hier indirekt und aufs Visuelle reduziert, Wiedererkennen und Orientierung gehören zusammen, wie jeder Spaziergang in einer Stadt deutlich macht, Bilder erkannt man wieder, Sind sie deshalb Orientierungen - Orientierungshilfen?

Bei ikonischen Bildern ist dies wohl ein Effekt: Konkretes, Bekanntes wird zugeordnet, und dadurch wird eine Situation simuliert, Diese Situation ist genauso einmalig wie jede andere, aber durch Reduktion entsteht Konstantenbildung, Die Reduktion auf ein Element innerhalb der Situation ermöglichst erst Konstantenbildung, Ein Bild reduziert, und dadurch ist es in der Lage Konstanten abzubilden, (ob die "stimmen"?) Erst durch Konstanten kommen wir zum Begriff also bilden die Bildbegriffe "menschliche Situationen" ab, als Konstante, als Begriff. Dadurch auch Orientierungshilfe, wenn auch eine falsche.


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