Zum Begriff des Abstrakten in der Zeichenkritischen Theorie


Geht man von dem Gedanken des Ikonischen (und eben auch der Abstraktion) aus, also dem Phänomen, dass man Dinge wiedererkennen kann auf Grund der Kenntnis der Erscheinungsform, den Eigenschaften und dem Aufbau der Dinge und Situationen, dann sind auch die Dinge und Situationen in der Wahrnehmung vom jeweiligen gesellschaftlichen Gebrauch her in ihrer Bedeutung begrenzt. Das Ikonische selbst wurde ja an entsprechender Stelle in den "Lektionen" dargestellt als eine symbolische, also konventionelle Wahrnehmungsweise. Dabei ist das Symbolische einmal bestimmt durch die Notwendigkeit, dass wir Identitäten erfahren müssen, um uns in unserer Umwelt zu orientieren, zum anderen ist die Art und Weise, wie diese Identitäten bestimmt sind, immer auch ein Resultat gesellschaftlicher Verhältnisse. So sind also bereits die 'Dinge' selbst Abstraktionen, d.h. gemäß bestimmten menschlichen Zwecken auf bestimmte Eigenschaften reduzierte Anschauungsweisen, ja, wenn man einen Gegenstand in der Hand hält, könnte man annehmen, dass dieser Gegenstand noch etwas völlig anderes sein könnte, als das, wofür man ihn hält, und nur der menschliche Gebrauch und der zielbestimmende Zweck macht aus ihm den Gegenstand, für den wir ihn halten. 

Und dennoch haben wir etwas in der Hand. Über die Konkretion dessen, dass wir etwas in der Hand halten, haben wir gleichzeitig etwas in der Hand, was in der Konkretion zu Tage tritt. Ich nenne das, was da 'zu Tage tritt' die "existentielle Konstante". Das, was wir in der Hand halten, führt gewissermaßen ein Doppelleben: zum einen ist es ein über gesellschaftlichen Gebrauch und allgemeine menschliche Notwenigkeiten her definierter (also begrenzter) Gegenstand, zum anderen ist es eine das menschliche Sein bestimmende Seinsform, die jenseits von allen Gebräuchen und Notwendigkeiten eine allumfassende und direkte Relation zu unserer Existenz besitzt. Von dieser Warte aus gesehen ist "das Ding" ein Teil dessen, wovon wir selbst ein Teil sind, unterschieden von uns und dennoch eins. Und da dieses Gegenüber ein mit unserer Existenz aufs innigste verbundene Seinsform besitzt, ein "Ding" ohne welches wir selbst jenseits von Zeit und Raum gar nicht denkbar wären, gebrauche ich hierfür den Begriff "existentielle Konstante". Die existenzielle Konstante ist natürlich nicht z.B. die konkrete Tasse, die wir gerade in der Hand halten. Vielmehr ist es die Tatsache, dass wir vom Objekt uns unterscheiden, dass wir eine eigene Identität besitzen, dass es den Gebrauch eines Objektes gibt und wir im Objekt uns selbst erleben und bestimmen. Und dieses haben wir auch in der Hand, wenn wir die Tasse umfassen. 

Die Idee der existentiellen Konstanten leitete sich in den Überlegungen der Zeichenkritischen Theorie von den bildnerischen Variablen her ab. Ich habe dabei das Pferd vom Schwanz aufgezäumt. Die bildnerischen Variablen sind die Elemente, ohne die ein Bild kein Bild wäre, anders ausgedrückt: es sind die konstituierenden Elemente für das Phänomen "Bild". Diese Variablen sind aber eben noch variabel, d.h. sie bedürfen der Konkretion um in Erscheinung zu treten. Nehmen wir "Spur": ohne eine Spur (Trägermaterial plus Gestaltungsmaterial/Werkzeug plus eingreifendes Subjekt) gäbe es kein Bild. Es wäre sinnlos von einem Bild zu sprechen, bei dem niemand mit nichts auf nichts nichts getan hat. In dem Moment, wo ich mich entscheide, ein Trägermaterial zu nehmen (Papier einer ganz bestimmten Sorte z.B.) ist das Trägermaterial schon nicht mehr variabel, es ist bestimmt in seiner Qualität, und nichts wird diese Qualität mehr ändern. Die bildnerischen Variablen treten in der Konkretion des "so und nicht anders" in Erscheinung. 

Der Übergang nun von der Idee der bildnerischen Variablen hin zur abstrakten Wahrnehmungstendenz ist dort zu sehen, wo es auch für den Menschen bzw. für das menschliche Sein Merkmale gibt, ohne die "Menschsein" gar nicht gedacht werden kann. Diese "existentiellen Konstanten" gelten für Menschsein überhaupt, unabhängig von geschichtlicher Zeit und Raum. Sie gelten in manchen Bereichen auch über das Menschsein hinaus, wie z.B. atmen, in manchen Bereichen sind sie an die menschliche Daseinsweise gekoppelt wie z. B. bei allen nur den Menschen bestimmenden Bewusstseinsformen und motorischen Fähigkeiten (z.B. Hand). Man kann die existentiellen Konstanten nicht "dingfest" machen, es gibt sie nicht als solche, sondern es gibt sie immer nur in einer ganz bestimmten situativen Erscheinungsform, als Konkretion. Dieser besonderen Form der Abstraktion, der existentiellen Konstanten, möchte ich den Begriff des "Abstrakten" zuordnen. 

Das Abstrakte unterscheidet sich also von der Abstraktion darin, dass das Abstrakte keine objektivierbare Identität bezeichnet wie die Abstraktion, sondern dass das Abstrakte die existentiellen Konstanten des menschlichen Subjekts bezeichnet. 

Wie wir wissen, sind die konkreten Augenblicke, die wir erleben, alle vergänglich, nichts kehrt wieder zurück, alles ist immer wieder neu und anders. Dennoch gibt es im Leben des Menschen diese Konstanten, die zwar ständig in veränderter Weise in Erscheinung treten, "konkret werden", aber grundsätzlich zur menschlichen Existenz dazugehören. Ohne diese "existentiellen Konstanten" gäbe es nicht das, was wir als "Menschsein" bezeichnen. 

Nehmen wir ein paar Beispiele. 

Atmung: ohne Atmung könnten wir nicht existieren und dennoch ist jeder Atemzug ein ganz besonderer. 

Stehen: ohne aufrechten Gang wären wir keine Menschen. Das Stehen (Senkrechte) ist eine jeweils besondere (menschliche) Konkretion der existentiellen Konstanten "Schwerkraft". 

Haut: ohne Begrenzung (Oberfläche) zum Umraum hätten wir keine Gestalt, keine Identität, vielleicht wären wir Geister, aber keine Menschen. Und jeder Mensch hat seine eigene, ihn begrenzende Haut.

Tag und Nacht: Unser Leben auf diesem Planeten ist unabänderlich verknüpft mit dem Wechsel der Tageszeiten. Und dennoch ist jeder Tag neu und anders.

In meinen Überlegungen stelle ich somit den Begriff der Konkretion dem des Abstrakten gegenüber, behaupte aber, dass beide untrennbar miteinander verknüpft sind. Das Ding, welches wir gerade in die Hand nehmen, ist demnach eine Konkretion, ebenso wie der Schritt, den wir machen, das Stück Holz, welches wir bearbeiten, oder der Tag der sich zu Ende neigt. In den Konkretionen wirken die existentiellen Konstanten, an denen wir selbstverständlich auch über unser Sein in der Welt Kontakt haben, oder selbst diese existentiellen Konstanten (zusammen mit allem anderen) sind.

Wenn man diesem Gedanken der existentiellen Konstanten folgen will, dann folgt daraus noch ein anderes: Diese existentiellen Konstanten sind so selbstverständlich für unsere Wahrnehmung, dass wir sie als Abstraktum gar nicht wahrnehmen. Wir müssen, um unser Leben zu meistern, die konkreten Situationen in den Griff bekommen, nicht die darunterliegenden existentiellen Konstanten, die sowieso da sind. Wir haben also eine doppelte Wahrnehmung: eine Aufmerksamkeit erheischende Wahrnehmung auf das Besondere der gegenwärtigen Situation hin bezogene und eine abstrakte, unbewusste, die selbstverständlich dazugehört, ohne die wir das besondere gar nicht zuordnen könnten. Die abstrakte Wahrnehmung von Wirklichkeit oder die abstrakte Wahrnehmungstendenz ist die Grundlegende Wahrnehmung auf der die anderen alle aufbauen. Das Abstrakte ist deswegen das einfachste von der Welt, da wir ganz unmittelbaren Zugang dazu haben. 

Schön wär's. Im alltäglichen Diskurs erscheint es uns als das direkte Gegenteil, das Abstrakte erscheint uns als etwas völlig Abgehobenes, der Realität Entrücktes, etwas Unverständliches, etwas, was den Eierköpfen überlassen bleiben sollte. .....


weitere Überlegungen


Allgemeiner Zusammenhang zwischen bildnerischen Variablen und existentiellen Konstanten


Vorbemerkung zu den Darstellungstendenzen:

Wenn existentielle Konstanten zum Ausdruck gebracht, also etwas Abstraktes formuliert werden soll, geht das zuerst einmal nicht über symbolische Darstellungen bzw. Formulierungen. Symbolische Formulierungen wären bereits durch jeweilige Konventionen in ihrer Bedeutung festgelegt, das eigentlich Abstrakte wäre zugunsten einer sprachsymbolischen Deutung verfälscht. Wir werden später deutlich machen, dass symbolische Formulierungen manchmal nötig sind, um zumindest abstrakte Inhalte anzudeuten. Ich werde versuchen, das am Beispiel der Formulierung von Zeit sichtbar zu machen. 

Ein weiteres: Ich habe oben dargelegt, wie die abstrakte Wahrnehmung von Wirklichkeit etwas ist, was sich der alltäglichen bewussten Wahrnehmung eher entzieht. Dies verhält sich in gleicher Weise, wenn wir an die Darstellung abstrakter Inhalte denken. Auch hier sind die abstrakten Grundlagen eher Rhema als Thema. Werden sie zum Thema, also zu dem, was auf der ewig fließenden Fläche quasi als Boot oben auf schwimmt, dann müssen sie von ihrer Allgemeinheit in eine besondere Form gebracht werden. Sie werden also in besonderer Weise konkretisiert im Zusammenhang der bildnerischen Variablen. Es wird ihnen ein besonderer Ausdruck verliehen, der als solcher auch ins Auge fällt. 

Man kann das Abstrakte über die in der Zeichenkritischen Theorie definierten "Bezeichnungstendenzen" zum Ausdruck bringen, da alles "Bedeutende" das Abstrakte nicht in möglichst reiner Weise zum Ausdruck bringen kann. Das Abstrakte hat eben keine Bedeutung, es ist einfach in seiner spezifischen Weise erfahrbar. Aber auch für die Bezeichnungsebenen gilt, dass alle situationsbezogenen Aspekte hier nicht her gehören, so dass es evident erscheint, dass nur der abstrakte Zeichenaspekt Abstraktes sichtbar machen kann. 

Der abstrakte Zeichenaspekt ist jeder Sprachform eigen. Er ist analog zu den existentiellen Konstanten das, was grundsätzlich eine Sprache ausmacht. Jede Sprachform hat einen eigenen Bestand an sprachlichen Variablen, die die Sprachform konstituieren und die in ihrer Gesamtheit das zum Ausdruck bringen können, was eine Sprache abstrakt vermitteln kann. 

Jede Sprachform hat auf Grund ihrer eigenen Eigenschaften als "Kanal" eine bestimmte Anzahl unterscheidbarer Variablen, die in ihrer Gesamtheit dieses Sprachform unabhängig von dem transportierten Inhalt ausmachen. Die These, die der Theorie des Abstrakten in der zeichenkritischen Theorie zugrunde liegt, ist nun die, dass die existentiellen Konstanten in den verschiedenen materiell unterscheidbaren Sprachformen (und den zugrundeliegenden "Kanälen") jeweils mehr oder weniger adäquate Ausdrucksmittel haben, die ermöglichen, dass entsprechende existentielle Konstante darin zum Ausdruck kommen. 

Nehmen wir ein Beispiel: Ich möchte über die Erfahrung der eigenen Körperlichkeit, der Haut, der Oberfläche des Körpers etwas zum Ausdruck bringen. Ich arbeite dann mit einer Sprachform, deren eigene Qualität schon "von sich aus" diese Oberfläche darstellbar macht. Ich werde ziemlich wahrscheinlich bei der Skulptur ankommen, da diese Sprachform das Prinzip "Oberfläche" in seinen Kanaleigenschaften "automatisch" mit sich bringt. Aber auch andere Sprachformen können Oberfläche transportieren: Das Bild hat auch immer eine mehr oder weniger wahrnehmbare Oberfläche, obwohl diese hier nicht so elementar erscheint wie bei der Skulptur. 

Wenn ich nun die Oberfläche gestalte, da sie ja in irgendeiner Weise meine eigene körperlich oder auch seelisch-geistig wahrnehmbare Oberfläche darstellen soll, muss ich sie "gestalten". Ich muss ihr also eine konkrete Form geben. Diese konkrete Form ist schon wieder etwas anderes als das Abstrakte selbst. 

Das Abstrakte lässt sich nicht darstellen, es ist zwar in dem jeweils gestalteten Medium auch immer anwesend, aber in seiner konkreten Form ist es schon wieder unterschieden vom Abstrakten. Das, was in Erscheinung tritt ist immer die Konkretion

Dies ist der Hintergrund, weswegen ich von bildnerischen "Variablen" spreche: solange sie nicht konkretisiert sind, sind sie dem Abstrakten direkt zuzuordnen, sind sie aber gestaltet, entziehen sie sich auch schon wieder dem eigentlich Abstrakten und sind in ihrem Mischungsverhältnis mehr oder weniger bestimmt durch die anderen hinzukommenden Zeichenaspekte. 

Man kann das alles auch anders sehen: Da man das Abstrakte, wie oben dargestellt, kaum wahrzunehmen braucht, da man dem Besonderen, dem Einmaligen aus den unterschiedlichen Gründen mehr Aufmerksamkeit widmet, ist dieses Abstrakte zwar immer da, aber für das Bewusstsein nur zweitrangig. Unsere gesamte Wahrnehmungsbereitschaft ist unter diesem Gesichtspunkt eine "tendenziöse Apperzeption", denn das Ausblenden von Wirklichkeitsanteilen im Sinne eines bestimmten Interesses ist Kennzeichen dieser tendenziösen Apperzeption. Der Mensch hat in der Evolution gerade dieses Phänomen im Sinne seiner Wahrnehmungsökonomie entwickelt, die Reize werden zwar empfangen und verarbeitet, aber das was bewusst wird, unterliegt sicherlich dem Diktat der situativen Wirklichkeitsbewältigung, und diese orientiert sich zum großen Maße an dem, was neu, unbekannt, wünschenswert, sicherlich auch triebgesteuert, und gefährlich erscheint. Abstraktes ist da eher unwichtig. Die ganz große Notwendigkeit zur Konzentration auf die situativen Anforderungen zum Überleben wird in und durch Kultur gemindert, so dass dann auch Raum bleibt sich dem Bekannten zu öffnen, dabei spielen Identifizierung, Empathie, auch Qualifizierung der Kenntnisse bezogen auf Menschen, Situationen und Sachverhalte eine große Rolle. Es bleibt Zeit und Aufmerksamkeit für die Schau nach Innen, und die ungeheuere Aufgabe der sozialen Verflechtung und ihren Folgen. Man kann Sprachen lernen, fremde Verhaltensweisen studieren und nachvollziehen lernen, man kann sich mit der eigenen bewussten und unbewussten Position beschäftigen und sich den unterschiedlichen hohen und niedrigen Kulturen und Künsten hingeben. Vom Abstrakten immer noch keine Spur. 

Gehen wir auf die Wahrnehmungskategorien der Zeichenkritischen Theorie ein, dann gilt dieses Ignorieren des Abstrakten auf der Bewusstseinsebene für alle Schichten. Als Wahrnehmungstendenz habe ich oben diesen Sachverhalt versucht zu entwickeln, aber er gilt auch bei der abstrakten Darstellungstendenz und ebenfalls bei der Rezeptionstendenz. 

Von der Rezeptionstendenz kennen wir alle das Phänomen, dass man bei ungegenständlichen Bildern häufig den Impuls verspürt sich dabei "etwas" vorzustellen. Und dieses Vorgestellte ist in der Regel ikonisiert. Bei gegenständlichen Bildern schauen wir in erster Linie auf das Motiv, die bildnerische und damit die abstrakte Ebene ist nur Kundigen und besonders Geschulten zugänglich. Der "normale" Rezipient wird die bildnerische Ebene in der Regel allenfalls als ominöses "schön" erleben. 

Auch bei der gestalterischen Arbeit an Bildern wird der normale Kunstschaffende hauptsächlich an sein Motiv denken, sicher wird er der Gestaltung viel Aufmerksamkeit widmen, aber vorwiegend, um das Motiv - in der Regel das ikonische Motiv - in seinen Augen zu vervollkommnen. Die Ausdruckswerte der ungegenständlichen abstrakten Formulierungen wird er als eigenständige Ausdruckskraft kaum wahrnehmen. Diese eigenständige Ausdruckskraft, Abstraktes sichtbar zu machen, ist der Ansatzpunkt für alle "abstrakte Malerei". 

Dennoch: 

Das Abstrakte ist nicht auf das Ungegenständliche beschränkt

 

 

Die bildnerischen Variablen sind in jedem Bild vorhanden, ob gegenständlich oder ungegenständlich. Gegenständliches und Ungegenständliches durchdringt sich in der Regel in jedem Bild und hat dies auch in der Kunstgeschichte bisher immer getan. Der Goldgrund in der christlichen Maklerei ist etwas (sprachsymbolisch) Ungegenständliches, Der Hintergrund beim Portrait ist häufig ungegenständlich aufgefasst, überhaupt ist bei Bildern das "Nichtgemeinte" in der Regel häufig besonders interessant, weil es eben das Abstrakte in besonderer Form zum Ausdruck bringt. Der Ausdruck "das Nichtgemeinte" ist wunderschön. Er zeigt in ganz klarer Weise das, was ich oben versucht habe zu erläutern. Das Nichtgemeinte meint man nicht, es ist aber als Bildbestandteil unabwendbar notwendig. Es ist Träger abstrakter Informationen. 

Wenn wir uns nun weiter mit dem Abstrakten beschäftigen ist erst einmal deutlich geworden, dass es sich dabei nicht um das Phänomen gegenständlich - ungegenständlich handelt, sondern um das Phänomen des Ausdruckswertes der bildnerischen Variablen, unabhängig davon, ob sie etwas "bedeuten" oder nicht. 

Die sprachlichen Variablen bezeichnen existentielle Konstante.

Grundsätzlich gilt aus der Sicht der Zeichenkritischen Theorie heraus, dass die existentiellen Konstanten in den jeweils sprachlichen Variablen ihren Ausdruck finden können. Nicht jede Sprachform hat jedoch "Zugang" zu allen existentiellen Konstanten. Daher ist die große Anzahl unterschiedlicher Sprachformen und multimedialer Ausdrucksweisen zu verstehen. Die (teilweise unbewusste) Dominanz bestimmter existentieller Konstanten, die sich in den unterschiedlichen Wahrnehmungsintentionen bei verschiedenen Menschen (bzw. auch bei unterschiedlichen Kulturen) ausdrückt, findet dann ihren Niederschlag in der Präferenz bestimmter Sprachsysteme. Wer schreibt hat eine andere Wahrnehmungsintention als einer, der sich als Maler betätigt. 

Nehmen wir das Beispiel der Senkrechten: Von der existentiellen Konstante her ist die Senkrechte das, was uns mit der Schwerkraft verbindet, es ist unsere Bodenhaftung, aber auch unsere Beweglichkeit in Zusammenhang mit dem Gleichgewichtssinn. Die Senkrechte zu halten haben wir mühsam im Laufe eines Jahres oder noch länger lernen müssen, wir wissen nicht mehr was uns das für Mühen gekostet hat. Die Senkrechte ist eine existentielle Konstante, denn ohne unsere spezifische Relation zur Senkrechten können wir uns unser Menschsein nicht vorstellen. Diese Senkrechte ist aber in jedem Augenblick immer neu zu konkretisieren, es gibt sie nicht "die" Senkrechte, sondern es gibt sie in den Abermillionen Augenblicken in denen wir die Senkrechte aktiv oder passiv immer neu erleben. 

Als sprachliches Äquivalent zu dieser Erfahrung gibt es die direkteste Beziehung zum Tanz, dort ist die körpereigene Senkrechte auch Thema der Formulierung in immer neuen Konkretionen. Die gesprochene Sprache, aber auch die geschriebene, kennt keine Senkrechte, ebenso wenig wie die Musik. In der bildenden Kunst kann die Skulptur und die Plastik am nächsten dieser Erfahrung Ausdruck verleihen. Auch hier ist - wie beim Tanz - die tatsächliche Schwerkraft Gegenstand der Auseinandersetzung. und jede Formulierung der Senkrechten ist eine eigene, einmalige und neue Konkretion. 

Die projektive Bildnerei, also Malerei und Grafik im Besonderen, hat in Bezug auf die Senkrechte einen ungeheuren Formenreichtum entwickelt. Interessanterweise ist eine Vertikale auf dem Bild, auch wenn es waagrecht auf dem Boden liegt, immer noch "senkrecht", es gibt ein oben und unten, und kein "näher" und "weiter weg". Das Bild hat eine Höhe und Breite, und die Höhe ist in der Vorstellung immer senkrecht. Man kann diese Senkrechte vielleicht wirklich eine abstrakte Senkrechte nennen, da diese Senkrechte nicht einmal konkretisiert ist. Konkretisiert sind dagegen alle im Bild auftauchenden Senkrechten, seien sie Lampenpfähle, Hauswände, stehende Menschen, oder einfach senkrechte Linien. Auch Kompositionslinien sind mit Vorliebe senkrecht, an der Mittenachse eines Bildes konkretisiert sich so einiges. Dann sind die Senkrechten aber auch noch außerhalb des Motivs konkretisiert: sie sind blau oder gelb. dick oder dünn, wackelig oder kräftig. 

 

Alle diese Beispiele haben in ganz unterschiedlicher Weise das Thema "Senkrecht" umspielt, bei den meisten ist es gepaart auch mit einem deutlich waagrechten Moment, und jedes Mal ist das Senkrechte Ausdruck einer anders gearteten Konkretion des Senkrechten. Wie man deutlich bemerken kann: Das Abstrakte im Bild hat nichts damit zu tun, ob das Bild  gegenständlich oder ungegenständlich ist. 

 

 

Symbolisierungen

Wenn man über das dem Medium Eigene hinausgehen möchte in der Konkretion abstrakter Inhalte, dann ist man bei einem Medium, welches bestimmte existentielle Konstante nicht "sowieso" zum Ausdruck bringt auf symbolische Darstellungen und Formulierungen angewiesen. Jede Sprachform entwickelt dabei ihre eigenen Möglichkeiten. Das Problem zeigt sich z.B., wenn man im Auto sitzt und einen Menschen nach dem Weg fragt. Es ist es dabei immer wieder ziemlich aussichtslos, das, was der freundliche Helfer einem sagt, auch tatsächlich zu verstehen. Wenn er eine kleine Skizze anfertigen würde, wäre es viel einfacher, die Information nachzuvollziehen. Die räumliche Orientierung ist über das Medium Bild/Skizze ungleich besser zu vermitteln als über die zeitorientierte Sprache. Das "erst" fahren Sie da entlang und "dann" fahren Sie die zweite links dorthin, ist weniger aufschlussreich als eine räumliche Orientierung, der man ganz selbstverständlich auch die zeitliche Reihenfolge entnehmen kann. 

 

"Tja, da muss ich mal nachdenken .... das ist gar nicht so einfach. 

Die meisten Leute fragen nämlich nach dem Weg in die andere Richtung"

 

 

Ein anderes Beispiel: Im sprachsymbolischen Kontext haben sich Verfahren entwickelt z.B. auch beim Bild zeitbezogene Aussagen zu machen. Der Comic und der Film wenden dieses Prinzip "sowieso" an, die Malerei muss erst über Symbolisierungen wie z.B. im Kubismus Wege aufzeigen, Zeit sichtbar zu machen. Alles, was sich tatsächlich bewegt, - also auch die kinetische Kunst - ist hier nicht gemeint, sondern es geht ausschließlich um Formen der Kunst, die von ihrer Struktur her statisch sind. Duchamps berühmtestes Bild "Akt eine Treppe heruntersteigend" ist hierfür ein gutes Beispiel:

 

 

 

Hier sehen wir eine kunstvolle Verflechtung von Bildwirklichkeit (O''), Motiv (O) und Wahrnehmung (O' bzw. O'''). Das Motiv wird über den Titel als ein zeitlich zu erfassendes Thema dargestellt, die Rezeptionsleistung macht aus dem an und für sich statischen Bild eine zeitliche Abfolge, auch weil man sich dem motivlich vorgegebenen Thema unterordnet. Man macht aus dem Bild Bewegungsphasen, die ein "nacheinander" symbolisieren sollen. Durch das hin und her Wandern des Blicks entsteht auch so etwas wie eine Bewegung, diese ist aber erst in unserer Vorstellung vorhanden. Das Bild selbst besteht aus rhythmisch sich verändernden Richtungen von Linien und Flächenkomplexen, die auf Grund ihrer Ähnlichkeit ein "aus sich heraus sich Entwickelndes" darstellen. Im trivialen Bildbereich kennen wir das Prinzip von den "vorher-nachher" Bildern. 

 

 

Als Symbolisierung erfahren wir bei dem Bild von Duchamps die Tatsache, dass wir anaphorisch wieder aufgegriffene Formelemente als "Zeit" nachzuempfinden bereit sind. Sprachsymbolische Hinweise gibt es dafür über die Entwicklung des Filmbildes, welches bereits in Ansätzen in der Renaissance entstand, als man Bewegungsabläufe von Tieren versuchte darzustellen (Dürer). Insofern ist ein Nacheinander von Einzelbildern in der kulturellen Tradition bereits längst verankert als Duchamps sein Bild malt. Die Anapher selbst als (ikonisches) Zeitsymbol zu beschreiben fällt etwas schwerer, dazu muss man wohl auch die Gehirnphysiologie mit in Betracht ziehen. Jedes erneute Wiedererkennen eines Elements bringt auch mit sich, dass man dieses schon "vorher" gesehen hat. Dieses "Vorher" bildet sich dann möglicherweise als Erfahrung von Zeit ab, und insbesondere, wenn dieses Element nicht identisch in Erscheinung tritt, sondern in einer modifizierten Weise, wie dies hier auf dem Bild von Duchamps zu sehen ist. Dann ergibt sich die unterschwellige Frage nach dem "wie diesmal?". Dadurch könnte sich dann ein Ablauf ergeben, der abstrahiert auch der eigenen Erfahrung zugänglich zu sein scheint. 

Symbolisierungen haben Vor und Nachteile. Der Vorteil ist, dass man über die gesellschaftliche Konvention die Bedeutung der Aussage lesen kann. Da das Abstrakte in der Konkretion - einer Malerei z.B. - immer mit den anderen Zeichenaspekten verbunden ist, kommt es darauf an, wieweit die Symbolisierung noch abstrakte Inhalte vermittelt. Man könnte behaupten, dass Sprachsymbolisierungen nur im Bewusstsein einer sprachlichen Gemeinschaft akzeptiert werden und in den Wortsschatz einer Sprache übernommen werden, wenn sie einen deutlichen Bezug zum Abstrakten aufweisen. Andererseits haben wir ausgeführt, und das ist der Nachteil,  dass Sprachsymbolisierungen häufig Setzungen sind, die im Machtgefüge einer Gesellschaft bestimmten Interessen dienen. Hier kann man annehmen, dass Symbolisierungen auch wenn sie behaupten "Allgemeines" zum Ausdruck zu bringen, dies Allgemeine eher Sonderinteressen der betreffenden Einflussgruppe sind. Auf diesem Sektor können dann auch die Beispiele nicht trivial genug sein: 

 

"Zuwachssparen"

 

Symbolisierungen entstehen durch Gleichsetzung von nicht Gleichem. 

Die existentielle Konstante des "sich Vermehrens", dieser ursprünglichste aller Lebenstriebe, wird erst einmal auf die Ebene des Geldes verschoben, wo getan wird als könne Geld sich vermehren, - dazu kommt dann natürlich die große Frage auf wessen Kosten "vermehrt" sich Geld - und für wen "vermehrt" es sich besonders - und um die Trivialität voll zu machen, wird dies mit der blödesten aller Plastikentenfamilien "belegt", die man sich vorstellen kann. 

 

 

Visuell angedacht ist, das sich die Familie mindestens verdoppelt (zwei Eltern vier Nachkommen) wo natürlich bei drei oder vier Prozent Zins keine Rede von sein kann. Eher sollen wohl die vier Plastikküken die vier Prozent symbolisieren, was natürlich auch wieder eine ungeheure Lüge ist. 

 

 

Apropos: wenn schon - dann richtig! - nach rechts schwimmt es sich viel positiver!

Symbole, die treffen

Man kann sich auch Symbolisierungen denken, die einen angemessenen Zugang zum Abstrakten ermöglichen. Doch wird man die wohl kaum in der Werbung finden, eher da, wo diese Symbolisierungen auf eine lange Tradition zurückblicken können und sich in den unterschiedlichsten Machtsituationen "behauptet" haben. 

Ich kann mit der Wortsprache einen Raum beschreiben, und dennoch wird dieser Raum anders 'aussehen', als wenn ich ihn auf einem Bild sehen würde. Wir können hier an Verfilmungen von Romanen denken, wo die Räume in fast jedem Fall ganz anders aussehen, als wie wir sie uns 'vorgestellt' haben. 

Auch im Bild ist dies möglich: Die Vorstellung von Dreidimensionalität ("Zentralperspektive") ist ein konventionelles Konstrukt, welches als bildnerische Variable nicht auftaucht, auch wenn eine Schräge auf Grund unserer ästhetisch-ikonischen Wahrnehmung TIEFE symbolisieren kann. Interessant, dass wir das dennoch als 'richtig' dargestellt empfinden.

Eines der mächtigsten Symbole ist das Kreuz. Das Kreuz verbindet die Waagrechte mit der Senkrechten. Aktiv und passiv, lastend und tragend, das Irdische mit dem Geistigen verbindend, und an der Stelle, wo sich die beiden Prinzipien schneiden, der Kreuzungspunkt, dort, wo einem vier Wege offen stehen, das Ich, das durch den Punkt symbolisiert wird. Von hier aus entfaltet sich die Position hin zum Irdischen, ebenso wie zum Geistigen; zur Vergangenheit hin wie in die Zukunft hinein. 

                                                                                                             

Altar in Rakovnik, 1496

 

Und was hat die christliche Religion daraus gemacht? Es ist ein Symbol für Schmerz und Gram geworden, für Trauer - und natürlich auch für Hoffnung - für eine Hoffnung jenseits von allem Irdischen - die Hoffnung auf ein Weiterleben nach dem Tod im Angesicht Gottes. Es ist das Symbol der Friedhöfe, der Gruftis, und natürlich der Abertausenden von Kruzifixen und Kruzifixlein, die häufig mehr oder weniger verkitscht richtungsweisend für unser spirituelle Haltung sein wollen. Dass man den Christus da drauf genagelt hat bis in die heutige Zeit hinein ist auch nicht von ungefähr: Ganz unabhängig davon, ob Christus am Kreuz gestorben ist - man hätte auch andere Symbole finden können, die den christlichen Glauben zum Ausdruck bringen - ist Christus eben die Verkörperung der Verbindung von Geistigem und Irdischem, ("Fleischwerdung des Geistes") von Vergangenheit und Zukunft ("Ich bin der Weg..."), von aktiv und passiv (der "Heiland", der selbst sein Schicksal annimmt). Man könnte sagen, dass die abstrakten Qualitäten dieses Symbols sehr genau sind, dass die Verschiebung hin zum Jammertal allerdings die aufgesetzte Ideologie ist, die diese ungeheuren Kräfte, die das Kreuz als Symbol in sich trägt, dem Menschen für seine Lebenswirklichkeit entzieht, und sie verlagert in das Reich, von dem die Priester behaupten, dass es nicht hier sei sondern irgendwo im Jenseits. 

 

 

Ein anderes, ungeheuer wirksames Symbol ist das Yin und Yang Symbol. Es geht von völlig anderen abstrakten Wirklichkeiten aus als das Kreuz. Es geht um Gegensätze und Vereinigung. Beim Kreuz spielt die Farbe überhaupt keine Rolle während hier der Hell-dunkel Kontrast Tag und Nacht symbolisiert, gleichzeitig das aktive und das passive Element (wie beim Kreuz auch, aber ganz anders), Mann und Frau, bzw. das männliche und das weibliche Prinzip, Kreis in sich, doch quasi negativ erweitert um den andren Kreis zu umfangen. In jedem dieser Elemente, die sich so umschlingen und damit eine Einheit im Kreis ergeben befindet sich im Zentrum der kleinen Kreise das Element der Gegenkraft. So ist alles aufeinander bezogen, die Gegensätze, die in sich schon als Zentrum den Kern des anderen tragen sind in sich nur als Ganzes denkbar. So konnten die Ostasiaten, die dieses Symbol entwickelt haben, auch keine Macht des Bösen unabhängig von der Macht des Guten entwickeln, es gibt keinen Teufel, der besiegt werden wird. Mit dem " Bösen" verliert auch das Gute seine Kraft und geht auf in einem allgemeinen Nichts dem Nirwana. 


Zurück zu den sprachlichen (bildnerischen) Variablen

Die begriffliche Wortsprache hat in besonderer Weise die Möglichkeit Abstrakta "zur Sprache zu bringen". Begriffe wie "Freiheit", Recht, Moral, Gesellschaft, Religion und was man sonst noch will, bezeichnen Konzepte, ohne die eine menschliche Existenz nur mit Mühe gedacht werden kann. Die Konkretion dieser Abstrakte findet bei solchen Begriffen im kulturellen Kontext, also dem kulturellen Netz statt. "Freiheit" mag als existentielle Konstante das Wissen darum sein, dass der Mensch in seiner genetischen Struktur (Determination) relativ zu den anderen Lebewesen wahrscheinlich sehr offen ist, er hat eine optimale Lernhaltung seinen eigenen und fremden Erfahrungen gegenüber, was ihn weitgehend unabhängig macht von genetischer Determination, um sein Leben zu bewältigen. Wie "Freiheit" jedoch dann im kulturellen Kontext definiert wird, ob amerikanisch, mafios, christlich oder moslemisch ist eine Sache der jeweiligen kulturellen Konkretion. Diese Konkretion drückt sich nicht im Wort, im Begriff aus, sondern im Text, in den Texten, die eine Gesellschaft zur Definition solcher Begriffe formuliert. Das Wort selbst ist dem Abstrakten sehr nahe, sobald dieses Wort in den Kontext eines Textes eingebunden wird ist es mit dem Abstrakten vorbei...

Nehmen wir noch ein Beispiel aus der Musik: Was ist die existentielle Konstante hinter einem Klang, einem Akkord? Harmonie und Disharmonie, Proportionalität, Dauer und Empfindsamkeit werden durch den Akkord angesprochen. Sicherlich noch mehr. Die Konkretion ereignet sich dann in dem einen Klang, in dem einen Klang, der schon wieder überlagert wird vom Neuen, Ein Abbild des Lebens in seiner ganzen unruhigen Bewegung und im Austausch von Moment zu Moment. Musik betont diesen einzigartigen Augenblick im Zelebrieren des Akkordes, und in dessen Vergänglichkeit. Musik verführt einen in das Jetzt des Lebens. Ob dies nun Chopin heißt oder AC/DC, das sind lediglich die Konkretionen, ohne die auch Musik nicht auskommt. 

Musik und Wortsprache haben eines gemeinsam: Sie müssen ihre Formulierungen allerdings in ein zeitliches Schema von Aufeinanderfolge umformulieren. Damit wird die zeitliche Dimension der Wahrnehmung besonders betont. Dagegen hat die Bildsprache in den bildnerischen Variablen die Möglichkeit, Abstrakta in räumlichen Bezügen darzustellen. Dieses habe ich auch bei den Untersuchungen zum Thema "Zeit" versucht darzustellen.

Musik und Wortsprache haben eine Gemeinsamkeit darin, dass sie in der Zeit organisiert sind. Sie unterscheiden sich darin, dass das Wort eher Begriffe - dem Rationalen zugängliche Sachverhalte - zum Ausdruck bringen kann, Emotionales wie es die Musik in besonderer Weise zum Ausdruck bringt, ist der Sprache eher in symbolisierter Form, in der Lyrik z.B. möglich. Und ähnlich wie in der Musik kann die Wortsprache durch Spannungsbögen durch überraschende Kontraste, durch Ellipsen (dies hat die Wortsprache wieder mit dem Film gemeinsam) emotionalen Wahrnehmungsintentionen entgegenkommen. Hell - dunkel Kontraste (z.B. Tag-Nacht) sind mit dem Bild sehr genau darstellbar, doch mit der Wortsprache eher nicht. Laut - leise (flüstern - schreien) wiederum ist mit gesprochener Sprache und mit Musik gleichermaßen ausdrückbar, dagegen nicht mit dem Medium des Bildes. Rhythmus (Herzschlag) kann mit Musik, aber auch mit dem Versmaß der Dichtung dargestellt werden. 

An den hier aufgezeigten Unterschieden sehen wir schon, dass jede Sprachform über die ihr eigene Gesetzmäßigkeit bestimmte existentielle Konstante mehr oder weniger adäquat zum Ausdruck bringen kann. Jede Sprachform hat die ihr eigenen Variablen, die als Äquivalente zu den existentiellen Konstanten denkbar sind. Die sprachlichen Variablen sind von Sprachform zu Sprachform unterschiedlich, es gibt Überschneidungen, wie z.B. das Phänomen des Rhythmus gezeigt hat, aber es gibt auch sehr spezifische Variable, die in keiner anderen Sprachform auftauchen. So ist erklärlich, dass es eine relativ große Menge an Sprachformen gibt, da jede in irgendeiner Weise notwendig ist, um bestimmte existentielle Konstante zum Ausdruck zu bringen. 

Diese Beobachtungen sind natürlich mehr als lückenhaft, es kann auch nicht meine Aufgabe sein, hier in die Tiefen abstrakter Ausdrucksmöglichkeiten ganz unterschiedlicher Sprachsysteme einzusteigen. Den Blick darauf gelenkt zu haben ist für meine Intention hier schon ausreichend. 

Was ist nun das Besondere des Bildes?

Das Bild spielt sich auf einer zweidimensionalen Fläche ab. 

Das Gemeinte ist eben die Fläche, die Oberfläche, und in der Regel nicht der Bild-Körper. Der Gegenstand, der eindeutig vor einem sich befindet, wenn man ein Bild anschaut, ist eigentlich für die Wahrnehmung nicht da. Alles, was mit dem Gegenständlichen des Bildkörpers etwas zu tun hat, wird ausgeblendet. Dafür tritt in der Regel eine imaginäre "Gegenständlichkeit" an diese Stelle. Etwas, das überhaupt nicht da ist, z.B. ein "Stilleben", wird als das eigentlich Gegenständliche erlebt. Erlebt wird also ein geistiger Prozess, der aus einer Ansammlung von Farbpigmenten am richtigen Ort ein inneres Bild produziert, Die Bildfläche wird so zur geistigen Spielwiese. Die existentielle Konstante, die hinter diesem Phänomen stehen könnte, - man denke daran, es erstreckt sich auch nicht in der Zeit - ist eine wirkliche Fläche, eine wirkliche Zweidimensionalität. Die Zweidimensionalität ist etwas, was in unserer Realität nicht vorkommt, Es repräsentiert "Oberfläche", als die Erscheinung von den Dingen. Die Erscheinung wiederum ist der Mittler zwischen der Realität und unserer Wahrnehmung. Über diesen Zusammenhang wird deutlich, dass das Bild in besonderer Weise geeignet ist, Wahrnehmungsweisen zu transportieren, Das Bild ist fast so etwas wie eine Berührungsstelle zwischen zwei Wirklichkeitsebenen, als würde auf der eigenen geistigen Oberfläche ein Abdruck der Realität sichtbar. Von daher wird einem auch deutlich, dass das Bild eine enorme Affinität für unser Bewusstsein hat, es ist fast "schöner" als die Realität selbst. Das entspricht auch der Beobachtung bei den Erklärungen zum Unterscheid von O und O''', wo ich ausgeführt habe, dass O''' uns "näher" ist, da es schon durch das Bewusstsein eines Menschen hindurch gegangen ist, es quasi gefiltert und zubereitet ist für die Verarbeitung. Ein Bild ist so etwas wie eine Analogie für unser die Realität durchdringendes Bewusstsein. Und da ein Bild uns so dicht unter die Haut geht, kann man es auch leicht mit der Realität verwechseln, wie insbesondere der Gebrauch der modernen Massenmedien zeigt...

Auf dieser Fläche werden materielle Elemente (Pigmente) in eindeutiger Weise einander zugeordnet. Jedes Bild (auch eine Fälschung) hat eine einmalige Syntax.

Jedes Bild (wenn es keine maschinell gefertigte Kopie ist, sondern ein "Original") ist charakterisiert durch eine absolut eindeutige Syntax. Ob diese Syntax "gemeint" oder "nicht gemeint" ist, spielt dabei keine Rolle. Jedes Element, jedes Pigment, ob sichtbar oder unsichtbar, hat seinen ganz genau bestimmten Ort. Das ist wie im richtigen Leben: Jeder Augenblick hat seine unverwechselbare Eigenart, kein Augenblick wird jemals "so" wiederkommen. Dieses Einmalige der Gegenwart, was häufig - wenn es 'schön' war - mit sich bringt, dass man den Augenblick festhalten möchte, kann man im Bild erleben. Hier gibt es die Wirklichkeit, die nicht unter der Diktatur der verrinnenden Zeit steht, es ist die Illusion, dass die Schönheit, die Fülle, die Jugend einem erhalten bleiben kann. Natürlich nicht nur das, Bilder, die nicht schön sind, zeigen einem ähnliches, zeigen einem die Brüchigkeit, die Absurdität, die Eitelkeit dieser Welt, aber eben auch - ohne Verfallsdatum.

Ein Bild "zeigt" etwas, und spätestens beim zweiten Mal erkennen wir es wieder. 

Immer sehen wir etwas auf einem Bild. In der Regel etwas in ikonisierter,  Form. 

 

 

Ein gemalter Löffel weist ganz konkrete Merkmale auf, man kann seine Individualität ganz genau erfahren. Im Gegensatz zum Wort 'Löffel' ('spoon', 'couillére'), welches als Wort überhaupt keine "Ähnlichkeit" mit dem Gegenstand hat. (bei der Sprache müssen wir im Kopf dieses Wort ikonisieren.) Wir müssen also ikonische Bilder, die wir von dem Gegenstand gespeichert haben, mit dem Begriff verknüpfen. Erst dann 'bedeutet' das Wort etwas für uns. Allerdings kann nun jeder Mensch diesen Löffel ikonisieren wie er will, jeder von uns hat einen anderen Löffel vor seinem "geistigen Auge", wenn man dieses Wort hört. Die Zeichnung, das Bild zeigt uns dagegen unmissverständlich, wie der Löffel für uns auszusehen hat. Ebenso wie das Bild selbst Repräsentant für das Identische schlechthin ist, ist auch das Abgebildete Zeichen für das mit sich Identische. Dies gilt sowohl für Gegenständliches wie für Ungegenständliches. Beim Ungegenständlichen verschiebt sich die Frage nach der Identität hin zur Formulierung, die Konkrete Kunst ist das Beispiel hierfür. Die Formulierung als mit sich selbst identisch, das geht auf der einen Seite bis hin zur l'art pour l'art, auf der anderen Seite können  wir fast so etwas wie eine metaphysische Bestimmung der Zeichen ahnen. 

Beim Bild wird über das zeitlich-räumliche "Moment" der Wahrnehmung, eine meditative Komponente der Wahrnehmung aktiviert. 

In der Unterschwelligkeit der abstrakten Elemente der (Bild-)Sprache kommt aber auch ein ganz Wesentliches zum Tragen: Durch das sich in der Wirklichkeit orientieren müssen ist unsere Wahrnehmung insbesondere auf ästhetische und ikonische Wahrnehmung "spezialisiert", unsere eingeschränkte Verarbeitungsfähigkeit den Impulsen gegenüber, denen wir von Minute zu Minute ausgesetzt sind, macht es sinnvoll, wenn möglichst viele dieser Elemente als "bekannt", und deswegen als redundant eingestuft werden, und somit die Fähigkeiten des (Kurzzeit-)Gedächtnisses nicht überfordern. Hier findet auch die Abstraktionsfähigkeit ihren Sinn: Sofort entscheiden können, welche Eigenschaften relevant sind, welche unrelevant. "Auf das Wesentliche reduzieren" heißt nicht, auf das Wesentliche der Sache reduzieren, sondern auf das Wesentliche der Sache in Bezug auf die eigene Existenz. 

Beim Bilderschauen kann sich diese "Schnelllebigkeit" der Wahrnehmung verändern. Obwohl die Präsenz des abstrakten Zeichenaspekts in der Regel nicht wahrgenommen wird, und die Konkretion der Formulierung das "Allgemeine" in der Regel  zugunsten des "Besonderen" (motivlicher Formen im Sinne der Aussageebenen) reduziert, haben wir über die "Zeitlosigkeit" des Bildes einen andren Zugang zu dessen Inhalten. Die Zeitlosigkeit des Bildes erfahren wir in unserer Wahrnehmung als Dauer, als dauerhaft. Wir können das Bild immer wieder anschauen, es verändert sich lediglich in unserer Wahrnehmung. Ein Bild hat etwas mit Stille zu tun, mit "Beschaulichkeit". Nichts läuft davon, nichts brennt an, das Bild fordert nichts von uns. Und über diese unendliche Präsenz kann der Geist selbst zu einer Stille und Ruhe finden. 

In der aktuellen Kunst wird diese Qualität bildender Kunst weitgehend vernachlässigt, auch hier wird das Element des Aktionismus weit in den Vordergrund gestellt. Der Ablauf eines Kunstwerkes (wie auch das Buch, die Rede, die Musik, der Tanz), im bildenden Bereich als Film, als Video, als Happening, als Aktion, usw., zieht den Betrachter hinein in sein Geschehen, "mitmachen" muss man, nichts versäumen, und das Ergebnis ist der Verlust der eigenen Befindlichkeit, da man ja ganz in der Aktion aufgeht. Man "versetzt sich hinein", man nimmt daran "teil", usw. 


So ist dann ein Kernstück der Überlegungen zum Abstrakten aus dem Blickwinkel der zeichenkritischen Theorie, dass die existentiellen Konstanten in den Variablen der jeweiligen Sprachformen ihre Äquivalente haben. Diese können zwar nicht als Abstrakta direkt gelesen werden, da sie ja bereits in einer Konkretion der jeweiligen Sprachform vorliegen, aber wir erfassen die abstrakte Wertigkeit der jeweiligen Variablen und können diese der entsprechenden existentiellen Konstanten zuordnen. Dies geschieht in der Regel (wenn keine intendierte abstrakte Rezeptionstendenz vorliegt) ebenso 'unbewusst', wie die Erfahrung der abstrakten Wahrnehmung selbst, und dennoch haben wir mit dem Empfinden der 'Stimmigkeit', mit der plötzlichen Überzeugung, dass es sich hierbei um etwas 'Richtiges' handelt ein Indiz dafür, dass wir die abstrakte Ebene unserer Wahrnehmung erfahren. 

Eine Schlussbemerkung: Etwas Eigenartiges ist sicherlich bei dieser Vorstellung: Die relative Begrenztheit der Variablen der unterschiedlichen Sprachformen auf Grund ihrer Ankopplung an Materialien und Techniken heißt auch, dass möglicherweise die sprachlichen Variablen nicht alle existentiellen Konstanten "abdecken" können. Es kann sein, dass es existentielle Konstante gibt, die nur in Form von Symbolisierungen, Analogien, Allegorien - wenn überhaupt - sprachlich vermittelbar sind. 

Möglicherweise ist es auch von hier aus verständlich, dass immer neue Medien geschaffen werden, die ihren Reiz dadurch haben, dass sie in der Lage sind, bisher noch nicht umsetzbare existentielle Konstante darzustellen. 


abstrakte Darstellungsweisen                    


Text - wird fortgesetzt.............