In verschiedenen Kursen habe ich versucht, das Aktzeichnen nach den Darstellungstendenzen hin anzulegen. Ich habe mit meinen Schülern systematisch die unterschiedlichen Darstellungstendenzen "durchkonjugiert" und es wurde dabei deutlich, dass das übliche Aktzeichenprogramm, welches sich viele Schüler als das einzig Richtige vorstellen, sehr eingeschränkt ist. Auch die Modelle fanden diese unterschiedliche Herangehensweise ganz spannend und haben mich noch Jahre darauf hin angesprochen. Die Ergebnisse sehen selbstverständlich auch noch ganz unterschiedlich aus, je nach dem, ob ich als Lehrer die Aussagebene vorgebe, oder ob der Schüler diese selbst (intuitiv) entscheidet. 


Die Frage der Darstellungstendenzen beim Aktzeichnen (Schüler)beispiele
ästh Bei der ästhetischen Darstellungstendenz haben wir verschiedene Möglichkeiten ausprobiert: Von der Stellung her: z.B.: Beleuchtung mit farbigen Spots, oder das Modell wurde mit einem Diapositiv angestrahlt, Die entstehenden kleinen Nuancen, die sich dann ständig ergeben durch die leichte Bewegung des Modells wurden dann ästhetischer Impuls wahrgenommen und in ganz unterschiedlicher Weise wieder dargestellt.  Die Arbeit hier ist entstanden in einer akzentuierenden Beleuchtungssituation. Material: Packpapier mit Gouache-Weißhöhung.

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gest bei der gestischen Darstellungstendenz wurde von der Stellung her sehr schnell gearbeitet, teilweise lief das Modell sogar im Raum umher und schaute sich an, was die Schüler gerade zeichneten. Der Zeichner konnte sich nur auf die elementarsten Zusammenhänge konzentrieren, und musste diese in schnellen Strichen festhalten. Eine andere Variante war der Versuch, dieses auch malerisch umzusetzen und dabei den persönlichen Duktus zu intensivieren. Eine relativ große, expressiv-gestische Arbeit in Mischtechnik. Diese Malweise erlaubt auch Schülern, die im Umgang mit Proportionen noch unsicher sind, über andere Zugänge zu interessanten Resultaten zu kommen.

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t-sy

Die tiefensymbolische Darstellungstendenz in einer Unterrichtssituation zu provozieren war fast unmöglich. Selbstverständlich ist bei jedem Teilnehmer diese Tendenz sowieso in seiner Arbeit beinhaltet, um sie etwas bewusster zu machen haben wir z.B. "Tricks" angewandt: Das Modell wurde in der Art eines Schattenspiels auf eine Leinwand projiziert, sollte sich auch ganz leicht dabei bewegen, und die Schüler hatten die Aufgabe dennoch einen ganz "normalen" Akt zu zeichnen. Die Erfahrung bestand dann darin, zu spüren, wie man sich erstens dabei unsicher vorkommt, und gleichzeitig, wie die Phantasie sich - ungelenkt vom tatsächlichen Anblick - in ganz unterschiedlicher Weise bei den Teilnehmern entwickelt hat. 

Bei dem hier gezeigten Beispiel wurde das Modell "blind" gezeichnet, der Zeichner hat also nicht gesehen was er zeichnet. erst hinterher wurde das Bild leicht überarbeitet. 

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ikon Die ikonische Übung war die "einfachste" weil sie am ehesten mit dem übereinstimmt, was "normalerweise" unter Aktzeichnen verstanden wird. Da sich allerdings das Registrieren von Merkmalen nicht nur auf die Formzusammenhänge in Zusammenhang mit Proportion zu richten braucht, sondern ebenso Figur-Grund Bezüge oder Kontrastphänomene, ganz abgesehen von den Fragen der Dichte eine Rolle spielen, kamen wir hier auf die unterschiedlichsten Herangehensweisen, die teilweise auch dann nur mit der Frage nach der Aussageebene zu klären sind. Es ist sofort einleuchtend, dass Ikonizität unter der Prämisse O-Aussage anders ausfallen wird, als bei der O' oder O''-Aussage.  verschiedene Studien eines knienden Modells, mit Andeutungen des Raumbezugs durch Schatten.

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i-sy Bei der individualsymbolischen Darstellungstendenz haben wir den Akzent auf die "Phantasie" des Schülers fokussiert. Das eigenartigste Experiment war jenes, wo das Modell zwar real gestanden hat, aber es hat niemand gesehen, da es hinter einer Wand verborgen war. Wir haben dabei auch den Versuch gemacht, dass das Modell beschrieben hat, welche Position es gerade einnimmt. Eine weitere Übung war einen Akt aus diversen Materialien zu collagieren, aus Zeitungspapier zu reißen, usw. Collage mit Zeitungspapier, gerissen und geklebt. 

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s-sy Beim sprachsymbolischen Herangehen an das Thema (auch eine längere Stellung) bin ich übermäßig dozierend herumgegangen, habe "korrigierend eingegriffen", habe erläutert, wie ich es machen würde, und wir haben Bücher zu Rate gezogen, die versprechen "richtig Aktzeichnen" zu lernen. Dies war für die Teilnehmer in gewisser Weise eigenartig, weil ich den Eingriff des Lehrers in die ganz konkrete Zeichnung normalerweise ablehne (eben wegen der sprachsymbolischen Wirkung), dennoch war das auch wohltuend für die Teilnehmer, da sie dann einfach einem Rat folgen konnten, mit dem sie einigermaßen selbstverständlich zu einer "guten" Lösung gelangten. Dies brachte uns zu der Einsicht, wie wichtig es ist, sich mit den "Meistern" zu beschäftigen. Diese zu kopieren ist eine wesentlich interessantere Übung, als mit einem sogenannten Lehrbuch zu lernen, auch wenn das sicherlich viele nützliche Hinweise zu finden sind. Was die Abbildungen anbelangt, so sind Lehrbücher in der Regel äußerst unbefriedigend. Abbildung aus einem Lehrbuch, Ein typisches Missverhältnis: Dem Lernwilligen wird durch die Qualität der Zeichnungen vorgetäuscht, dass er, wenn er dieses Lehrwerk sich erarbeitet, auch so zeichnen könne. Derjenige aber, dem es gelingt so zu zeichnen mit all dem Hintergrundswissen, was dazu noch gehört, der wird dieses Lehrwerk überhaupt nicht mehr brauchen. Es ist eine typisch sprachsymbolische Selbstinszenierung des Autors. Dem Lernenden bleibt im besten Fall übrig, die Vorlagen abzuzeichnen. Gelingt ihm auch das nicht, wird er bald das Buch beiseite legen.

 

index Die indexalische Darstellungstendenz im Bereich des Aktzeichnens ist grundsätzlich problematisch. Das, was auf dem Bild nicht drauf ist, zumindest anzudeuten als etwas, das mitgedacht werden muss. Der Lernzusammenhang ist dabei ein Faktor, natürlich auch der Gegenstand selbst, der in einer spezifischen kunstgeschichtlichen Tradition steht. (wobei dies schon eher ein sprachsymbolsicher Anteil ist.) Dann auch die heutige "Zeit", - "Freizeit", "Konsum", "Wirtschaftskrise", politische Situation usw. Davon abgesehen, dass all dies sowieso in das Bild einfließt, ist es noch etwas anderes, dieses bewusst mitzusehen. Wir haben hier alle im Kurs entstandenen Zeichnungen darauf hin befragt, wie das Indexalische sich bemerkbar gemacht hat. Es war klar geworden, dass ein Versuch, das zur Erklärung notwendige Zusatzwissen direkt mitzudenken, eine kaum zu bewältigende Aufgabe war. Man hat natürlich die Tendenz, bewusst Mitgedachtes an Zeitzusammenhängen doch ins Bild "einzubauen, was dann zu individual- oder sprachsymbolischen Lösungen führt.  Diese Arbeit ist entstanden im Kurs eher unter dem Aspekt des "Gestischen". Dennoch hat hier die anschließende Betrachtung deutliche indexalische Aspekte ergeben: die starken großen Beine signalisieren Beweglichkeit, auch Kraft. Die Haltung der Beine selbst ist eher ein in sich und um sich drehendes Verharren, inaktiv, abwartend. Dazu die fehlenden Arme und Hände: Handlungsunfähigkeit. Der kleine Kopf signalisiert etwas wie Isoliertheit, zwischen Geist und Körper bestehen Disproportionen. Insgesamt wurde dies als Bild für ein bestimmtes Menschsein in unserer heutigen Zeit eingeschätzt. Vom Abstrakten unterschieden: Es ist eben kein Bild des Menschen "an sich". 

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abstr Die abstrakte Darstellungstendenz ist grundsätzlich das Zentrum der Gestaltung. Hier geht es allerdings darum, das Repertoire der bildnerischen Variablen als Ausdruck für etwas "existentiell Konstantes" einzusetzen. Dies führt zu Überlegungen, was der "Akt" denn im Wesentlichen sei. Es kommt zu Gedanken wie Ungeschütztheit, Verletzlichkeit, Scham, "Nichts verbergen", natürlich auch sexuelle Attraktivität. Beim Aktzeichnen interessiert sich nur ein Idiot lediglich um die Zusammenhänge der Gliedmassen... Was ist das "Knochengerüst", was ist eben dieses als Sinnbild des Todes? was ist die "vergängliche Schönheit"? Was ist der Körper im Zusammenhang mit Seele und Geist? Alle diese Überlegungen können in die Arbeit mit dem Akt einfließen, wenn man dies nicht "akademisch" betreibt. Wichtig ist den Blick auf diese Sichtweise zu lenken, ohne zu meinen, man könne dies dann auch erfüllen.  Hier wurde versucht, unabhängig von den anatomischen Gegebenheiten ein Bild zu gestalten, bei dem zumindest versucht werden sollte etwas Grundsätzliches zum Menschen auszusagen. Es handelt sich hier um eine schnell hingeworfene Skizze, das sich Aufrichten, das Stehen und Tragen, das Feste und das Labile sollen hier sichtbar werden. 

Skizze von T. Rothermel Kurszusammenhang VHS